Von Sinnen

Autos schlängeln durch die Straßen,
rumpelnd Schlaglöcher abzupassen
– hören.

Abgase infizieren reinigende Luft,
verteilen im Takt chronisch, ruß’gen Duft
– riechen.

Zunge sanft vom Inhalat umschmeichelt,
sucht vergebens nach Süße, die streichelt
– schmecken.

Triste Häuser immer Grauer,
Blick gen Himmel tilgt die Trauer
– sehen.

Gassen schleusen eis’gen Wind,
frostig piekst er Mann und Frau und Kind
– fühlen.

getrübte Freuden lauern im Quartier
öffnen uns eine imaginäre Tür
– 6. Sinn

 

Hier, wo die Arbeiterschaft einst nächtigte, Leerstand nachwievor präsent ist, Müll auf den Straßen und ein rauher Umgangston zuweilen für Unmut sorgen, haben wir uns auf Genussreise begeben. Denn so sehr das Bild des Viertels nach Außen getrübt scheint, so sehr liegt darin auch eine eigensinnliche (!) Form des Genusses verborgen.

Indem wir sechs Künstler:innen und drei örtliche Kreativschaffende über einen Zeitraum von fünf Monaten zusammenbrachten, stießen wir den theoretisch-praktischen Dialog um einen Sonnenberg der sinnlichen Genüsse an, den es sich lohnt mit Freude zu entdecken. 

In drei Etappen erforschten hierfür zeitgleich jeweils zwei Künstler*innen einen der sechs Sinne. Ihre Arbeit wurde begleitet von drei Dokumentar:innen aus den Bereichen Musik, Journalismus und Design/Fotografie. 

Ob Kulinarik, Intervention, Performance, Installation oder Rundgang – wir machten den Sonnenberg mit allen Sinnen sicht- und fühlbar.

  • SEMÂ BEKIROVIĆ
    1.01.2020
    IRÈNE HUG
    30.12.2020
  • ANNA TILL
    1.01.2020
    HEIKO WOMMELSDORF
    30.12.2020
  • TAINÀ GUEDES
    1.01.2020
    KLARA RAVAT
    30.12.2020
  • 07.01 ‣DREI FRAGEN AN ANNA TILL
    Dialogfeld 2

    Du bist nun seit einigen Wochen in Chemnitz (unterwegs):
    Wie sind deine Eindrücke von der Stadt? Ist dir irgendwas bestimmtes aufgefallen? Warum? Welche Unterschiede siehst du dabei z.B. zu euren Heimatstädten Dresden und Hamburg?

    Anna: „Chemnitz, das ist für mich vor allem: Viel Platz haben. Breite Straßen, große Häuser, wenig Menschen. Das lässt viel Freiraum. Ich bin ziemlich beeindruckt von all den unterschiedlichen kulturellen Initiativen, die diesen Raum nutzen um die vielfältige Subkultur zu gestalten und dabei immer einen starken Bezug zur Stadtgesellschaft Chemnitz suchen. Im Gegensatz zu Dresden, das in den letzten Jahren nahezu totsaniert wurde und überwiegend sein Barock-Erbe pflegt, sind in Chemnitz stilistische Brüche sichtbar. Ich werde viel mehr an die DDR-Vergangenheit erinnert, durch bestimmte Gebäude oder Denkmäler aus dieser Zeit. Das genieße ich auf eine eigenartige Weise. Es gibt nicht ein Bild, eine Ästhetik von Chemnitz. Chemnitz ist wie ein Puzzle bei dem mit der Zeit einzelne Puzzleteile verloren gegangen sind und durch neue ersetzt wurden. Ein Cluster ohne Zentrum.“

     

    Im Rahmen der Dialogfelder 2020 Von Sinnen widmest du dich dem Tastsinn: Gibt es dabei Impressionen, die du vor allem aus dem Sonnenberg zieht? Um welche handelt es sich konkret? Wie finden sich diese in deiner Arbeit wieder?

    Anna: „Tastsinn ist der Sinn, der mich in der Welt verortet. Indem ich Informationen über das Tasten aufnehme, erkenne ich die Temperatur einer Oberfläche, fühle ob diese weich oder hart ist und in welcher Distanz ich mich zu einem Objekt befinde. Das ist erstmal unabhängig von der genauen Umgebung. Mithilfe des Tastens setze ich meinen Körper in Bezug zu dessen Umfeld. Das ist für mich entscheidend. Den Körper quasi in das Zentrum zu rücken und zu positionieren. In diesem Fall im Sonnenberg. Wo gehe ich schnell vorbei? An welcher Stelle möchte ich verweilen? Welche Oberflächenstrukturen sind mir vielleicht noch nie aufgefallen? Welche Ecken und Kanten bieten Raum um den Körper daran anzupassen, sich darin zu verkriechen? Welche Flächen sind weit und groß, so dass sie als Bühne genutzt werden können?“

     

    Kannst du uns jeweils einen kleinen Ausblick auf die entstehende Arbeit geben? Auf was dürfen sich Besucher:innen der Präsentationswoche vom 31.10. bis 06.11. freuen?

    Anna: „Ich möchte bei den DIALOGFELDERN etwas probieren, dass ich noch nie gemacht habe.  Normalerweise zeichnet sich meine Arbeit durch Minimalismus, Genauigkeit und künstlerischen Dialog aus; außerdem produziere ich überwiegend Stücke für die (Theater-)Bühne. Dieses Mal gehe ich in den Stadtraum und beschäftige mich intensiv mit einem speziellen Material: Schaumstoff. Ich habe mir quasi ein übergroßes Kostüm als  Perfomance-Partner gesucht. Das Objekt besteht aus unterschiedlichen Polygon-Formen (Konzeption und Konstruktion: Tobias Eisenkrämer) und ist ein bisschen größer als ich. Ich befinde mich innerhalb des Objektes, mein Körper verschwindet also fast komplett, bewegt aber von innen das Material. Außerdem gibt es mehrere Löcher, die ich nutze, um dem Schaumstoffwesen Arme, Beine und Kopf zu geben. Auf diese Weise erstaste ich die Stadt, den Sonnenberg.“

  • 07.01 ‣DREI FRAGEN AN HEIKO WOMMELSDORF
    Dialogfeld 2

    Du bist nun seit einigen Wochen in Chemnitz (unterwegs):
    Wie sind deine Eindrücke von der Stadt? Ist dir irgendwas bestimmtes aufgefallen? Warum? Welche Unterschiede siehst du dabei z.B. zu euren Heimatstädten Dresden und Hamburg?

    Heiko: „Für mich war Chemnitz ein unbeschriebenes Blatt. Das Label Raster-Noton bzw. Raster-Media kannte ich und darüber hinaus nichts bis auf die Ereignisse aus dem Jahr 2018. Im Vergleich zu Hamburg ist der extreme Leerstand hier auf dem Sonnenberg eine absolute Extreme. Leerstand gibt es in Hamburg nicht und hier stehen ganze Häuser leer. Dennoch habe ich Chemnitz begeistert kennengelernt. Die „Gegenwarten/Presences“ Ausstellung und der „Hang zur Kultur“ fielen in meine erste Chemnitz-Woche. Darüber hinaus gab es noch eine wunderbare Fahrradtour durch Chemnitz mit der Bordsteinlobby und ein herzliches Kennenlernen der Galerie Borssenanger und der Galerie OSCAR im Weltecho.“

     

    Im Rahmen der Dialogfelder 2020 Von Sinnen widmest du dich dem Hörsinn: Gibt es dabei Impressionen, die du vor allem aus dem Sonnenberg zieht? Um welche handelt es sich konkret? Wie finden sich diese in deiner Arbeit wieder?

    Heiko: „Ich bin als Klanginstallationskünstler seit 2007 tätig. Mein Fokus liegt seit langem auf Geräuschen des urbanen Raumes, obwohl ich außerhalb einer Galerie / eines Museums nur sehr selten ausstelle. Lüftungs-/Klimaanlagen, Heizkörper, Leuchtstoffröhren oder Wassertropfen in Fallrohren positioniere ich in Ausstellungen. Über die Einladung, direkt im urbanen Raum arbeiten zu dürfen freue ich mich deshalb sehr. Mit einem Dezibelmessgerät in der Hand habe ich viele Spaziergänge durch das Viertel gemacht, die Ergebnisse meiner Touren werden ab den 31.10. präsentiert.“

     

    Kannst du uns jeweils einen kleinen Ausblick auf die entstehende Arbeit geben? Auf was dürfen sich Besucher:innen der Präsentationswoche vom 31.10. bis 06.11. freuen?

    Heiko: „In meiner Arbeit „Schallleistungspegel Chemnitz-Sonnenberg“ wird das Ticken der Ampeln, das Brummen der Lüftungsanlagen, das Surren der Stromkästen und weitere Geräuscherzeuger im öffentlichen Raum gemessen. Mit einem Aufkleber wird der Passant darauf hingewiesen, dass es hier etwas zu hören gibt. Um die Orte zu finden, an denen ich auf dem Sonnenberg den Schallleistungspegel gemessen und Etikettiert habe, erhält man einen Stadtplan des Viertels mit Markierungen und weiteren Informationen.“

  • 07.01 ‣DREI FRAGEN AN TAINÁ GUEDES
    Dialogfeld 3

    Du bist nun seit einigen Wochen in Chemnitz (unterwegs):
    Wie sind deine Eindrücke von der Stadt? Ist dir irgendwas bestimmtes aufgefallen? Warum? Welche Unterschiede siehst du dabei z.B. zu eurer Heimatstadt Berlin?

    Tainá: „Ich freue mich, so viele Garteninitiativen und Menschen zu sehen, die eine nachhaltigere, integrativere und harmonischere Gesellschaft aufbauen wollen. Ich habe Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund getroffen, die in der Stadt leben, und sie sind alle so stark und inspirierend – vom Haus der Kulturen, über die Lila Villa und ihrer internationalen Community bis hin zu allen Deutschen und Einheimischen. Ich hatte nicht mit einer Stadt mit so viel Platz und großen Alleen gerechnet. Das gefällt mir, als symbolisches Bild. Schöpfung braucht Raum. Veränderung braucht Raum. Wenn ich also über diese beiden Dinge nachdenke (den Raum in der Stadt und diese Menschen, die ich getroffen habe), denke ich, dass das vielleicht vorherrschende negative Bild der Stadt zum Positiven geändert werden kann.

    Die Arbeit, die der Klub Solitaer e.V. mit Dialogfeldern leistet, ist eines der entscheidenden Projekte auf diesem Weg für Veränderungen. Die Idee sechs Künstler:innen von außerhalb in der Stadt zusammen zu bringen, um mit der lokalen Gemeinschaft zu arbeiten und zum Denken über öffentliche Räume anzuregen, ist ein wirkungsvolles Instrument, um Menschen für eine positive Veränderung zusammenzubringen.

    Im Vergleich zu Berlin sehe ich Gemeinsamkeiten in den Garteninitiativen und der wachsenden Anzahl junger Menschen, die bereit sind, sich einen „kleinen Garten“ zuzulegen, der nachhaltigere Ideen und das Ziel mit sich bringt, die Städte grüner zu machen.“

     

    Im Rahmen der Dialogfelder 2020 Von Sinnen widmest du dich dem Geschmackssinn: Gibt es dabei Impressionen, die du vor allem aus dem Sonnenberg ziehst? Um welche handelt es sich konkret? Wie finden sich diese in deiner Arbeit wieder?

    Tainá: „Ich finde das Viertel und seine Nachbarschaft sehr schön. Mir gefällt der Blick auf die Stadt von der „Spitze“ des Sonnebergs aus. Manchmal bedeckt bei Sonnenuntergang ein geheimnisvoller Nebel Teile der Gebäude. Die Aussicht auf die Dächer ist atemberaubend. Mein Lieblings-Lebensmittelgeschäft in der Stadt „Peacefood“ befindet sich hier – meine stärkste Verbindung zu Lebensmitteln hier. Sie haben eine gute Auswahl an Zutaten, und die Vielfalt ist sichtbar, schmeckbar und man kann durch den Geschmackssinn die Bedeutung der Bewahrung der Vielfalt auf unserem Planeten verstehen. Geschmack ist einer der überzeugendsten Sinne, die wir haben. Ich glaube, es ist der Sinn, den wir am meisten vertrauen und verstehen.“

    Kannst du uns jeweils einen kleinen Ausblick auf die entstehende Arbeit geben? Auf was dürfen sich Besucher:innen der Präsentationswoche vom 12.12. bis 18.12. freuen?

    Tainá: „Ich erarbeite eine Installation aus sieben großen Drucken (3,5m x 2m) und sieben Videos, in Zusammenarbeit mit Chemnitzer:innen  unterschiedlicher Hintergründe. Die Installation nutzt das Selbst, um Begriffe auszupacken, die Identität und Symbolik widerspiegeln. Die Einzelpersonen oder so genannte „Entitäten“, die auf den Drucken abgebildet sind, fungieren als Oberfläche zur Sensibilisierung von Anmerkungen zu Fragen im Zusammenhang mit der Vielfalt. Die visuelle Verkörperung von Lebensmitteln entfaltet persönliche und kollektive Identität, und Verbindungen zwischen Elementen und Bereichen, die seit Anbeginn der Menschheit Thema sind.“

  • 07.01 ‣DREI FRAGEN AN KLARA RAVAT
    Dialogfeld 3

    Du bist nun seit einigen Wochen in Chemnitz (unterwegs):
    Wie sind deine Eindrücke von der Stadt? Ist dir irgendwas bestimmtes aufgefallen? Warum? Welche Unterschiede siehst du dabei z.B. zu eurer Heimatstadt Berlin?

    Klara: „Chemnitz, das „Land“ der leerstehenden Gebäude. Ich bin wirklich beeindruckt von der Fläche und den leerstehenden Gebäuden in der ganzen Stadt. Diese Leere vermittelt mir den Eindruck unbegrenzter Möglichkeiten – Dinge geschehen zu machen und zu lassen. Es ist, als würden die leeren Räume meine Tagträume geradezu anfachen. Unweigerlich kommen mir viele Fragen über Raum und Wohnen in den Sinn: „Was würde passieren, wenn ich nach Chemnitz ziehe? Würde ich es mir eines Tages leisten können, in dieser Stadt ein ganzes Gebäude zu kaufen? Könnte ich mich in einem dieser Gebäude niederlassen und es in ein riesiges Geruchslabor umbauen? Würden Leute aus Berlin vorbeikommen, wenn ich an den Wochenenden einen Kleinbus besorge?“ Phantasieren über die Möglichkeiten des Raumes. Was mich ebenso fasziniert, ist die große Anzahl der Gärten, und wie engagiert die Menschen, die die Gärten betreiben, sind. In einer Stadt, die recht ruhig und beschaulich erscheint, finde ich, dass die Gemeinschaftsbildung und Treffpunkte ein Muss sind, um sie in Verbindung zu halten.

     

    Im Rahmen der Dialogfelder 2020 Von Sinnen widmest du dich dem Geruchssinn: Gibt es dabei Impressionen, die du vor allem aus dem Sonnenberg ziehst? Um welche handelt es sich konkret? Wie finden sich diese in deiner Arbeit wieder?

    Klara: „Im Moment finde ich die Gerüche des Viertels Sonnenberg recht neutral. Da die Räume so weiträumig sind und aufgrund der COVID-Bestimmungen im Moment kaum Menschenansammlungen möglich sind, verflüchtigen sich die Gerüche. Ich frage mich dabei, ob die Stadtplanung und der fast nicht vorhandene Geruch Hand in Hand gehen. Durch den wunderbaren Rundgang, den Octavio und Lisa vom Bordsteinlobby e.V. an den ersten Tagen in der Stadt umsetzten, habe ich erfahren, dass Chemnitz früher sehr nach Trabant-Öl roch und die Verschmutzung durch die umliegenden Tagebaue die Stadt geradezu vereinnahmte.
    Die (scheinbare) Geruchsneutralität muss also etwas wirklich Wichtiges für alle und für die Geschichte der Stadt sein. Es ist fast so etwas wie ein Aushängeschild, eine Art Wink. Der neutrale Duft erinnert uns daran, zu vergessen und hinter uns zu lassen, wer wir waren, und deutet an, wer wir sein wollen.
    Die tabula rasa oder die weiß-duftende Leinwand weckt meine Vorstellungskraft, so wie es die leeren Gebäude tun. Was würde passieren, wenn eine Ausländerin – die ich bin – die Gerüche des Sonnenbergs nicht nur neu denkt, sondern auch neu kreiert? Was wäre, wenn ich eine fiktive Geschichte phantasievoller Düfte des Sonnenbergs erzähle?“

    Kannst du uns jeweils einen kleinen Ausblick auf die entstehende Arbeit geben? Auf was dürfen sich Besucher:innen der Präsentationswoche vom 12.12. bis 18.12. freuen?

    Klara: „Wegen des gegenwärtigen Weltwahnsinns, war ich in letzter Zeit sehr an Selbstfürsorgeerfahrungen interessiert und wie man Rituale schafft – wie man Menschen Raum zur Verarbeitung all dessen gibt, was wir im Kunstkontext durchmachen.
    Zum Beispiel habe ich in Berlin einen komplett weißen Raum, inkl. großem weißen Kissen (7 m) in einem Galerieraum in Berlin-Mitte geschaffen. Der Raum war mit Meeres- und Luftgerüchen parfümiert, und ich habe einen sich wiederholenden dröhnenden Klang entworfen, der Besucher:innen hilft sich zu entspannen. Ich wollte, dass die Menschen in der Lage sind, zu kommen und im Raum zu bleiben, solange es eben notwendig ist. Eine Pause von der Pandemie und ihrem Privatleben.
    Hier auf dem Sonnenberg arbeite ich daran, jene Selbstpflegepraktiken mit den neutralen Aromen der Nachbarschaft zu verbinden. Hierfür habe ich einen rituellen Teppich zur Selbstpflege entworfen, der aus Wolle hergestellt wird. Der Teppich enthält verschiedene eingearbeitete Symbole. Sie sind Darstellungen meiner eigenen Heilungs- und Fürsorgepraktiken. DMit ist bewusst, dass dies sehr privat ist und nicht jeder damit zu tun haben könnte, daher möchte ich meine Praktiken teilen und sie auf eine eher persönliche (statt private) Ebene bringen – die Verbindung zwischen dem Geruch der Nachbarschaft und dem, was wir tun können, um uns besser zu fühlen, indem wir uns vorstellen, welche Düfte wir gemeinsam für eine bessere Zukunft kreieren könnten.“